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Liota Land&Sea

Seit den 1980er Jahren lebt Thomas Klie im Sommer auf der griechischen Mittelmeerinsel Lesbos. 

Das Haus steht auch für Lesbos-Liebhaber zur Vermietung.

Lesvos: Hot-Spot der Flüchtlingskrise

Thomas Klie

Der Papst kam nach Lesbos, prangerte die unmenschliche Asylpolitik an,  forderte, Flüchtlinge nicht als Nummern sondern als Menschen zu behandeln und ihnen mit Respekt zu begegnen. Er nahm einige geflüchtete Menschen demonstrativ mit nach Rom. Ai Weiwei hat die Insel besucht und mit Aktionskunst Aufmerksamkeit erzeugt und ein Mahnmal für die Ertrunkenen hinterlassen. Mytilene, die Hauptstadt von Lesbos, ist zum Schmelztiegel der aktuellen Flüchtlingsdynamik geworden, die das Jahr 2015 geprägt und bis heute ungelöste Fragen hinterlassen hat. Waren es 2015 noch 600.000 Flüchtlinge, bis zu 9.500 an einem Tag, so sind es in diesen Tagen immerhin noch 40 bis 150, die täglich die Insel erreichen. Die geflüchteten Menschen prägen im Vergleich zum letzten Sommer nicht mehr das Straßenbild, landen nicht mehr vor den Augen der Urlauber an den Stränden der Touristenorte. Sie werden gezielt in der Nähe der Hauptstadt abgesetzt, wenn es ihnen gelungen ist, nicht von der Küstenwache abgedrängt zu werden, wenn sie es geschafft haben, die Natoabschirmung zu überwinden und das stets gefährliche Gewässer zwischen der Türkei und Lesbos zu überqueren.

Ich sehe sie noch vor mir, die Flüchtlinge in unserem Dorf auf Lesbos, die mit nassen Hosen, oft mit erlöst hoffnungsvollen Gesichtern aber auch erschöpft auf die Platia kamen. Dort ruhten sie sich zunächst aus, wurden bewirtet oder, so sie Geld hatten, kauften sie die letzten Vorräte der Taverne auf und bestellten alles, was die Küche hergab. Am Anfang war noch ein Willkommensfrühstück üblich, vom Bürgermeister organisiert. Frauen standen am Straßenrand und gaben Brot aus. Es kamen in erster Linie Männer, aber auch ganze Familien und nur wenige alte Menschen. Schnell wurden sie zu viele. Entweder wurden sie von Bussen abgeholt, die die Geflüchteten nach Mytilene in die Auffanglager bringen sollten, oder sie machten sich zu Fuß auf in die 80 Kilometer in die Hauptstadt, wo sich ihr weiteres Schicksal entscheiden sollte. Flüchtlingskolonnen säumten die Straßen, denn zunächst machte man sich Der Fluchthilfe schuldig, wenn man sie im privaten PKW mitnahm. In den Macchiabüschen fanden wir ihre Pässe, die sie auf Rat der Schlepper weggeworfen hatten. Nach pragmatischen (unter Zurückstellung der Verfahrensanforderungen) durchgeführten Registrierungsverfahren durch die völlig überforderten griechischen Behörden standen Schiffe standen parat, die sie nach Piräus bringen würden. Der Bürgermeister von Mytilene, Spyros Galinos, hatte zusätzliche gechartert, um den Streit um eine schnelle Weiterreise unter den Flüchtlingen zu beschwichtigen.

Mit einer erstaunlichen Ruhe haben die Inselbewohner zunächst auf den Flüchtlingszustrom reagiert, in einer Grundhaltung des Respektes, der Hilfsbereitschaft, der Toleranz und in gewisser Weise auch der Gelassenheit. 

Was passiert nun nach dem EU-Türkei-Abkommen? Die Geflüchteten werden sofort ins Hot Spot Lager nach Moria gebracht, bei dem es sich faktisch um ein Gefängnis für 3.500 Menschen handelt.  Die Syrer mit sicheren Aussichten auf Asyl werden überwiegend in einem anderen Lager am Rand von Mytilene aufgenommen. Was die Geflüchteten in Moria empfängt ist alles andere als erfreulich: Der Ausgang ist ihnen in den ersten 25 Tagen untersagt, die Verpflegung ist in jeder Hinsicht miserabel: Lange Warteschlangen, in denen jeweils bis zu vier Stunden für eine Mahlzeit, die aus zwei Keksen zum Frühstück und Nudeln ohne Soße zum Mittagessen besteht, angestanden werden muss. Unbegleitete Minderjährige befinden sich vielfach ohne angemessene Betreuung unter den Erwachsenen. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeiten, keine Privatsphäre.

Während es die Syrer noch vergleichsweise gut haben, da sie eine sichere Ausreiseperspektive haben, sind es vor allen Dingen die Afghanen, denen kaum eine Chance gegeben wird: Ihnen werden systematisch Informationen über ihre Anhörungsrechte und ihre Rechte als Geflüchtete und im Asylverfahren verweigert. 

Gleichzeitig zeigt sich Lesbos auch die Insel der Volunteers. Über 1000 waren es 2015, sie unterscheiden sich stark mit Blick auf Herkunft, Motiven und den Kompetenzen, die sie mitbringen. Es sind die etablierten NGOs vor Ort, wie  Ärzte ohne Grenzen, Advocacy Abroad, Euro Relief, aber auch die „Voluntourists“, die stillen Helfer von der Insel, die, die die Beerdigung der ertrunkenen Flüchtlinge organisiert haben, um ihnen eine letzte Ehre zu erweisen. Dem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR)kommt eine wichtige Rolle in der Koordination der Freiwilligen zu. Viele deutsch-griechische Vereine sind aktiv, die Kirchen informieren sich über die Situation, internationale Tagungen, etwa zum Familienrecht, werden auf die Insel verlegt: Die breite Palette zivilgesellschaftlicher Organisationen gab und gibt sich ein Stelldichein in Griechenland. 

Die meisten sind inzwischen wieder abgezogen, einige sind jedoch geblieben. Eine Gruppe konnte ich besuchen: Respekt für Griechenland heißt die deutsche NGO, die sich Volunteers for Lesvos angeschlossen hat. Sie habe ich besucht und ausführlich mit ihnen geredet. Freiwillige aus ganz Europa wechseln sich ab, sie bemühen sich, dass die Geflüchteten willkommen geheißen werden. Das steht im Kontrast zu den Bedingungen in den Auffanglagern in Moria. Sie unterhalten eine Küche für die Geflüchteten, in denen sie als Alternative zur Essensversorgung in Moria täglich über 600 Mahlzeiten bereitstellen – unter Beteiligung von Flüchtlingen, die ihr Kochkünste einbringen. Die Initiative hat eine leerstehende Fabrik besetzt, um dort ein soziales Willkommenscenter einzurichten. Dort gab es Schlafräume für Frauen, eine Küche und einen Kindergarten. Auch diese Einrichtung entstand in Zusammenarbeit mit den Geflüchteten, die bereit sind, die Selbstorganisation nach Kräften zu unterstützen und in besonderer Weise ihre Kompetenzen, ihre Ressourcen einbringen. Die Polizei hatte zunächst Sympathien für die Nutzung des leerstehenden Gebäudes, auch weil die Geflüchteten so von der Straße verschwanden. Aber weder die Lagerverwaltung noch die Verwaltung von Lesbos waren angetan von der Nutzung. Die Eigentümerin des Gebäudes, die Alphabank, eine drei übriggebliebenen Banken in Griechenland, ließ es inzwischen räumen. Eine zivilgesellschaftliche Verantwortung war sie nicht bereit zu übernehmen,  von Corporate Citizenship keine Spur. Nun sind die Initiative und vor allen Dingen auch die Geflüchteten wieder auf der Straße gelandet, direkt am Meer hausen sie in ihren Zelten, wenn sie es in Moria nicht aushalten. Die Kinder müssen wieder zurück in das Lager, die Frauen haben ihre Möglichkeiten des Rückzuges verloren, der Besprechungs- und Beratungsraum, in dem Aufklärung und Rechtsberatung stattfand, steht wieder leer. Übrig geblieben sind Malereien für die Kinder an den Wänden, sind Hinweisschilder auf die Nutzung der Sanitäranlagen, Schilder über die Spielregeln im Umgang miteinander. Die ideologischen und politischen Überzeugungen  stehen programmatisch an den Wänden: No Racism, no Sexism, no homophobia. Der ideologische Geist, aus denen die NGO’s des Welcome-Centers hervorgegangen sind, steht durchaus im Kontrast zu den geschlossenen Weltbildern, die auch bei Geflüchteten verbreitet sind. 

Das geräumte Gebäude wird, zu erreichen nur noch durch ein Loch in der Mauer, wieder von einigen Unentwegten genutzt: Es lässt so erahnen, welche Vorteile das weitere Bestehen gebracht hätte.  Vielleicht findet sich ja eine Alternative zur besetzten Fabrik in der Nähe des bisherigen Welcome Centers. Die Vergeblichkeit wohnt manchen Initiativen der zivilgesellschaftlichen Akteure inne. Das was die Freiwilligen dort tun, vom Abhören des Funkverkehrs der Küstenwache und Nato über die Organisation von Rechtsberatung und das Kochen mit den Geflüchteten bis hin zum Einwerben von Spenden: Das alles ist auch ein Symbol gegen die bürokratische und im Effekt zynische Abfertigung der geflüchteten Menschen in den Auffanglagern.

Da kommen Studierende und andere Freiwillige  aus Deutschland, aus der Schweiz, aus Spanien aber auch aus Osteuropa, die ihre Ferien dort verbringen, mitarbeiten, Schichten schieben, mit der Bank und der Präfektur verhandeln - und Zeit mit den Geflüchteten verbringen. Sie bieten ihnen Schutz gegen die Sonne oder den starken Wind, sie hören zu, sie spielen, sie lachen. Sie teilen ihre Verzweiflung und verteidigen ihre Ideale. Manchmal kann man die Freiwilligen von den Geflüchteten nicht unterscheiden. Da ist etwa der in Deutschland geborene Mohammed marokkanischer Abstammung mit leichtem schwäbischem Slang, der sich zum Ziel setzte, die Balkanroute von Deutschland in umgekehrter Richtung in den Süden zurückzulegen. Auf seinem Weg hat er sich immer wieder NGO’s angeschlossen, die sich für die Geflüchteten einsetzen. Jetzt ist er auf Lesbos gelandet, dort wo sie ankommen. Seinen Pass hat er inzwischen verloren und teilt in gewisser Weise Unsicherheiten mit den Geflüchteten.

Die basisdemokratischen Debatten, die Freiwillige und Geflüchtete führen, erinnern an die Gespräche in den 70er Jahren an deutschen Hochschulen. Nicht alle NGOs haben ein solch explizit politisches Verständnis ihrer Arbeit wie die Volunteers for Lesvos. Die Leute von Euro Relief etwa suchen eine Aufgabe – ohne dass ihnen die politischen Rahmenbedingungen, deren Wirkungen sie auszugleichen versuchen, besonders wichtig wären. Andere arbeiteten 2015 in 14 Stunden Schichten bis zur Erschöpfung, um die Not an den Stränden zu bewältigen. Es entsteht ein Flickenteppich der  Humanität. Ohne die Freiwilligen gäbe es nicht die kleinen Oasen für die Flüchtlinge, würde Europa dort nicht sein menschliches Gesicht zeigen, wo die Geflüchteten ankommen.

Ohne die Freiwilligen gäbe es nicht die hörbare Kritik an den Verstößen gegen Menschenrechte. Besonders zu beklagen ist die Missachtung der Rechte unbegleiteter Minderjähriger, für die es zwar eine eigene Einrichtung in Agiassos gibt, die aber nur wenige der Minderjährigen erreichen. Viele landen in den Händen von Menschenhändlern, die die Kinder an adoptivwillige Eltern oder kriminelle Organisationen verkaufen. Es gibt Kinderhändlerketten, die auf brutale Weise ihre Geschäfte machen. Für die unbegleiteten Minderjährigen finden sich kreative Initiativen, so werden sie von Organisationen in Selbstorganisation und sozialem Miteinander Geschult: etwa auf dem Gelände eines Hotels in Thermi, wo sie sogleich das Erlernte im Kontakt mit den Hotelgästen üben.

Die kritische, die helfende, die kreative Zivilgesellschaft auf Lesbos gibt Zeugnis von einer eigenen europäischen Wertegemeinschaft: die der Volunteers. Die findet auch auf künstlerische Ebene ihren Ausdruck, zum Beispiel durch das Symbiosis Lesvos Festival. Dabei geht es den Initiatorinnen darum, ein besseres Verständnis zwischen Inselbewohnern, den Touristen, Freiwilligen und geflüchteten Menschen zu befördern, Räume zu eröffnen, in denen Talente und Kreativität gezeigt werden können. Das ist nicht unwichtig, auch wenn das Künstlermilieu nicht gerade die traditionelle Kultur der Bewohner von Lesbos trifft. Die örtliche Bevölkerung verfolgt das Flüchtlingsgeschehen und auch die Arbeit der Volunteers nicht nur mit Sympathie, zum Teil mit offener Ablehnung. Wenn die eigenen Nöte, die wirtschaftliche Krisensituation, die unsicheren Aussichten der eigenen Existenz, die Abwanderung der jungen Menschen von der Insel kein Gehör finden, ist das verständlich. Aber immer wieder gab und gibt es Unterstützung, gibt es Spender, finden sich auch Anwälte von der Insel, die sich freiwillig engagieren, privat, still oder vernehmlich. Manche schließen sich auch der der Initiative Volunteers for Lesvos an.

Die vielen tatkräftigen, insgesamt aber fragilen Bemühungen um eine die Menschenrechte erfüllender Begleitung der Geflüchteten auf der Insel Lesbos ändern nichts an dem von den Inselbewohnern insgesamt mit Verbitterung beklagte Untätigkeit der europäischen Institutionen, wenn es um die Bewältigung der Flüchtlingsfrage geht. Ai Weiwei und der Papst sind wieder weg. Der Tourismus auf der Insel liegt darnieder: von knapp 300 Charterflügen im Jahre 2015 sind 35 im Jahre 2016 übrig geblieben. Von den knapp 20.000 Touristen pro Monat kamen bisher in der Hochsaison 4.000 pro Monat. 90 % Rückgang des Tourismus, wo doch der Tourismus einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Insel ist. Auch wenn Griechenland insgesamt einen Tourismusboom erfährt, so gilt dies für die von der Flüchtlingskrise besonders betroffene Insel nicht. Hier sind politische Maßnahmen gefragt. Die Insel, die in der größten Notsituation die meiste Hilfe geleistet hat, verdient Respekt und Unterstützung. Der bunte Haufen der zivilgesellschaftlichen Aktivistinnen und Aktivisten verteidigt sie und verdient auch unter diesem Aspekt Respekt. Allerdings tragen sie eine zu schwere Bürde und erfahren zu wenig Unterstützung: Sie allein können die Menschenrechte und die Humanität, auf die wir uns – zumindest in Europa – verständigt haben, nicht retten. Die Verlagerung des  Asylmanagements in hot spots aus den Flüchtlingslagern in Deutschland und anderen europäischen Ländern verlangt nach entsprechender zivilgesellschaftlicher Flankierung – aber auch nach Maßnahmen der EU und Deutschlands. Eine konzertierte Aktion und Kampagne wünscht man sich für Lesbos, die die vielen Aktionen und Promibesuche verbinden, in zentralen Aussagen etwas von der Wahrheit der Situation auf der Insel transportieren und Handlungsoptionen aufzeigen: staatliche, ökonomische und zivilgesellschaftliche. Und: Lesbos ist eine Insel, die gerade jetzt eine Reise wert ist, ein lohnendes Ziel. Für Freiwillige, für Touristen, die nicht nur fern ab der Themen unserer Zeit Ferien machen wollen.

 

Empfehlung: Die Filmemacher Paar Philip Brink und Mareike van den Velden haben Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Touristen eindrucksvoll dokumentiert: „The Island of all Together – Conversations on Lesvos“ heisst das Video, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/the-island-of-all-together-treffen-auf-lesbos-14103759.html

Kontakt: solidarityfor lesvos unter: http://www.lesvossolidarity.org/index.php/en/

Der Autor, Leiter des Zentrums für zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze) Freiburg. Professor an der Evangelischen Hochschule, wohnt seit 30 Jahren im Sommer auf Lesbos und berichtet über die aktuelle Flüchtlingssituation und die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Initiativen.

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